Eindrücke eines Neumitglieds: Ein Jahr SPD

Veröffentlicht am 07.01.2018 in Reden/Artikel
 

Ein Jahr SPD

Gedanken zu meinem ersten Jahr als Genosse

Vor einem Jahr bin ich das erste Mal zum Neujahrskegeln des Ortsvereins Lauchringen gekommen. Heute jährt sich dieses Ereignis – ein guter Grund für einen Rückblick.

Wie kam es, dass ich im Herbst 2016 Fabian Wunderlich, den damaligen Ortsvorsitzenden, kontaktierte, um mich bei der SPD politisch zu engagieren? Seit Jahren wollte ich mich für eine offene, pluralistische und solidarische Gesellschaft einsetzen und engagieren. Doch wie so oft im Leben, kam einiges dazwischen: die Promotion und Hochzeit in Frankreich, Anstellung in der Schweiz, die Geburten meines Sohnes und meiner beiden Töchter. Nachdem sich die Wogen gelegt und meine Familie die ersten Wurzeln in Lauchringen geschlagen hatte, regte sich erneut der Wunsch, mich politisch für mehr Freiheit, Solidarität und evidenzbasierten, gesellschaftlichen Fortschritt einzusetzen.

Zur selben Zeit passierte das Undenkbare, die ach so rationalen Briten votierten vollkommen irrational für den Brexit und ein egomanischer Selbstdarsteller mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Kleinkindes wurde zum Präsidenten der USA gewählt. Gleichzeitig und bis heute erstarkten xenophobe, nationalistische und europafeindliche Parteien in Deutschland und den Nachbarländern. Es schockierte mich, dass Parteien, wie die konservativ-nationalistische AFD mit ihrem menschenverachtenden Geschrei nach Volk und Identiät, immer mehr Zulauf bekommen. Was läuft hier falsch? Ich musste aufstehen und mich politisch in Deutschland und Europa für Freiheit, Pluralität und Solidarität einsetzen, gerade weil 2017 ein Bundestagswahljahr war.

Die CDU und CSU hatten sich 2016 total zerstritten, die SPD hat erfolgreich und effektiv in der gesamten Legislaturperiode Ihre Ziele umgesetzt und Deutschland sozialer und gerechter gemacht. Anfang 2017 gab es bei den Wählern eine Wechselstimmung. Der strategisch geschickte Wechsel an der SPD-Spitze führte zu einer Verstärkung dieser Stimmung, die SPD war plötzlich in der Gunst des Wählers stark im Aufwind. Mit Martin Schulz übernahm ein Unverbrauchter, aber auch Unerfahrener das Ruder und definierte die große Vision seines Bundestagswahlkampfes: „Zeit für mehr Gerechtigkeit“.

Für mich war dies der erste aktive Wahlkampf überhaupt! Mit Rita Schwarzelühr-Sutter, unserer Direktkandidatin und Lauchringer Ortsvereinsmitglied, marschierte ich von Tür zu Tür; ich organisierte einen Wahlkampfstand am Samstag vor der Wahl in Lauchringen, bei anderen Gelegenheiten konnte ich leider aus beruflichen oder familären Gründen nicht. Ich war ein wenig irritiert. Insgesamt schien mir dieser Wahlkampf, nicht nur bei uns in der Gemeinde, wenig koordiniert. Moderne Medien und eine gezielte Kampagne, um den Slogan zu unterfüttern und auszubuchstabieren, waren kaum zu erkennen. Anscheinend beliebig wurden Themen und Diskurse ausgerufen, dann aber nicht schlüssig in eine Gesamtvision eingebettet.

Das Ergebnis ist uns allen bekannt, die SPD kassierte Ihr historisch schlechtestes Bundestagswahlergebnis. Die CDU/CSU übrigens auch. Die AFD, mit ihrem illiberalen, unkoordinierten, völkischen Geschrei wurde drittstärkste Kraft; eine Katastrophe.

Wie war das möglich? Dazu später mehr...

Noch in der Wahlnacht erklärte Martin Schulz mit großer Unterstützung in der Partei, dass die SPD in die Opposition gehen würde und für eine weitere Große Koalition nicht zur Verfügung stände. Andrea Nahles freute sich erkennbar auf Ihre neue Rolle als Oppositionsführerin und versprach was ordentlich „auf die Fresse“. Dieses übereilte und strategisch ungeschickte Verhalten verhinderte zum einen eine unvoreingenommene Analyse des SPD-Wahlkampfs, aber auch der gesellschaftlichen Situation, zum anderen reduzierte es unnötig, in einer historisch schwierigen Situation, die politische Manövrierfähigkeit der SPD. Stattdessen waren schnell die alleinigen

Schuldigen ausgemacht: die Große Koalition und vor allem die Mutti aller Mütter: Frau Merkel.

Zu diesem Zeitpunkt hielt ich die Entscheidung für durchaus geschickt. Das Festhalten an Martin Schulz für konsequent, vor allem, weil ich davon überzeugt war, dass es zu einer Schwampe Koalition kommen würde. Doch als dann der Reggea auf dem Balkon der parlamentarischen Gesellschaft ausgetanzt war, die FDP ihr national-liberales, marktdogmatisches Gesicht gezeigt hatte, waren die Karten neu gemischt.

Warum erneut eine überschnelle Absage an mögliche Verhandlungen und eine eigentlich gar nicht mehr so große Große Koalition. Frau Merkel hat den Karren in den Dreck manövriert, nicht die SPD! Doch mit diesem erneuten kategorischen Nein wuchs der Druck auf die SPD. Zusätzlich musste die Führungsriege langsam zurück rudern in einer Zeit, in der sie die große Erneuerung und Richtungsdiskussionen mit der Basis angestoßen hat.

Am Sonntag, den 07.01.18, dreieinhalb Monate nach der Bundestagswahl, fangen die Sondierungsgespäche zwischen SPD und CDU/CSU an. Ergebnisoffen ist der Ansatz, dies sollte auch in der Kommunikation und Strategie beherzigt werden, ansonsten muss der nächste Schnitzer ausgebessert werden.

Ich bin überzeugt, dass unabhängig von der tatsächlichen Entscheidung zur Art der Regierung, wir, die SPD, aus dieser Phase erfolgreich hervorgehen.

Wichtig hierfür ist eine tatsächlich klare und schonungslose Analyse, warum die SPD in den letzten 15 Jahren so massiv an Wählergunst verloren hat. Dafür ist natürlich ein intensiver Diskurs mit den Mitgliedern notwendig, aber auch eine besseres Verständnis der gesamtgesellschaftlichen Situation in Europa. Nicht nur in Deutschland haben sozialdemokratische Parteien an Zustimmung verloren; wenn wir nicht aufpassen geht es uns bald so wie der „Partie socialist“ in Frankreich.

Meines Erachtens ist eine Reduktion der Analyse auf „die GroKo“ nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Falsch, weil gerade die SPD anfangs 2017 massiv von Ihren Erfolgen und der Stimmung für einen Wechsel profitiert hatte, in der GroKo, und weil es Brandt ebenfalls gelungen ist, aus einer echten großen Koalition erfolgreich als Kanzler hervorzugehen. Gefährlich, weil alle monokausalen Erklärungsansätze die Notwendigkeit einer breiten Analyse verneinen und diese im Ansatz ersticken.
Der Misserfolg der SPD ist auch nicht ein zwingendes Resultat des geschickten und erfolgreichen Agierens Frau Merkels, sämtliche nie von ihr konzipierten oder initiierten Reformen der letzten Jahre erfolgreich für sich zu reklamieren. Es kann auch nicht an der vermeintlichen Stärke der CDU/CSU liegen, die sich im wesentlichen, während der gesamten letzten Legislaturperiode, zerstritten hat.

Nein, wir sollten schon bei uns und unserem Entwurf fürs große Ganze suchen. Es liegt an der Art und Weise, wie wir uns selber sehen und vor allem, wie wir von außen wahrgenommen werden. Wir haben viele wichtige und relevante Ansätze in der Sozial- und Familienpolitik, im ökologischen und ökonomischen Bereich, radikale und notwendige Reformvorschläge für das Gesundheitssystem, unser Programm ist detailliert und facettenreich, aber es fehlt uns ein alles überspannender Mythos, ein Narrativ. Ein roter Faden von der Weimarer Republik, dem Widerstand im Nationalsozialismus, über Brandt und Wehner, zu Schmidt und Schröder, eine große Erzählung der europäischen Sozialdemokratie und eine Vision für ein soziales pluralistisches Europa. Dies muss auch eine kohärente Sicht der Agendapolitik und der letzten beiden Großen Koalitionen beinhalten. Mit der Agenda der Schröderzeit legten wir, die SPD, das Fundament für den wirtschftlichen Erfolg der Merkel-Jahre. Wir müssen nun dafür sorgen, dass die Früchte dieses ökonomischen Erfolgs allen zu gute kommt. Zum einen muss der Erfolg bewahrt, aber auch die sozial ökologische Schieflage korrigiert werden. Es kann nicht sein, dass sich eine kleine Elite permanent bereichert, ihr Vermögen in Panama oder sonstigen Paradiesen bunkert, ohne sich solidarisch am Wohl unserer Gesellschaft zu beteiligen.

Freiheit bedeutet eben nicht nur die Abwesenheit von Zwängen, sondern auch die Gewährleistung der Fähigkeiten, diese Freiheit zu realisieren, seinen Weg zum Glück zu verwirklichen. Dies braucht als zweite Zutat Solidarität – Nächstenliebe. Um auch den Schwächeren in unserer Gesellschaft die Verwirklichung Ihrer einzigartigen Träume, ihres Weges zu ermöglichen, müssen wir für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen. Diese Solidarität in Form sozialer Gerechtigkeit beschränkt sich nicht nur auf das Materielle, sondern mindestens genauso wichtig ist die soziale Integration, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Diese Solidarität ist auch essentiell, damit Erfolg und Wohlstand in einer sozialen Marktwirtschaft ohne Neid geschätzt und als soziale Verpflichtung wahrgenommen wird.

Unsere Analyse der gesellschaftlichen und parteilichen Situation, deren Synthese zu einem sozialdemokratischen Narrativ, muss durch ein evidenzbasiertes Programm unterstützt und kommuniziert werden. Nicht dogmatische Paradigmen, sondern der Dienst am Menschen, an Europa, am Land und an den Leuten, hin zu einer parizipativen, integrativen, supranationalen Gesellschaft, sollte unser Wegweiser sein.

Der Mythos einer sozialen und freien Gesellschaft in ganz Europa, ohne Angst vor dem Fremden, solidarisch sich über alte nationale Grenzen gegenseitig stützend, ist mein Traum einer sozialdemokratischen Partei in Deutschland und Europa.


Philipp Schmidt-Wellenburg, Kassier

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